In jedem von uns steckt Rassismus: In einer scharfen Analyse beschreibt die Journalistin Reni Eddo-Lodge, wie Ungerechtigkeit strukturell in unserer Gesellschaft verankert ist - und was Sie dagegen tun können.
Sie werden dieses Buch hassen. Sie werden es nicht hassen, weil es schlecht geschrieben ist, sondern, weil es sie bis ins Mark treffen wird. Am Ende der Lektüre werden sie nur zwei Optionen haben: Sie werden das Buch weglegen und sich sagen, "Alles Schwachsinn" - oder aber Sie werden einen schmerzhaften Prozess durchmachen und schließlich erkennen, dass Sie ein Rassist sind. Sicher ist: "Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche" von Reni Eddo-Lodge wird etwas in Ihnen auslösen.
Für die britische Journalistin Eddo-Lodge begann alles mit einem Blogpost, den sie 2014 veröffentlichte und der im Original die Überschrift "Why I'm No Longer Talking to White People About Race" trägt.
Sie schrieb darin: "Ich kann nicht über die Einzelheiten eines Problems reden, wenn sie nicht einmal die Existenz des Problems anerkennen. Schlimmer noch ist die weiße Person, die willens ist, aber glaubt, dass wir dieses Gespräch als Ebenbürtige führen. Das tun wir nicht." Haben Sie diese Sätze schon erzürnt, wollen Sie vielleicht zu einer Gegenrede ausholen? Immer und immer wieder skizziert Eddo-Lodge die unterschiedlichen Machtverhältnisse, und erklärt, warum sie ihre Redeverweigerung nicht als Schwäche, sondern als Selbsterhaltung sieht.
Natürlich ist sich Eddo-Lodge des Paradoxes bewusst, denn ihr Buch ist - trotz des Titels - eigentlich eine Einladung zum Gespräch. Es ist aber ein Gespräch, in dem sie die Kontrolle behält. Dass sie mit ihren Leserinnen und Lesern diskutieren will, zeigt sich daran, wie verständlich, detailliert und anschaulich Eddo-Lodge schreibt. In sieben Essays durchläuft sie die Themen, die sich mit strukturellem Rassismus beschäftigen (Feminismus, Intersektionalität, die Angst vor der angeblichen Auslöschung der Briten, die Arbeiterklasse, Chancen im Job).
Ihr Buch beginnt sie jedoch mit der britischen Geschichte von Kolonialismus, Sklaverei und Migration, um aufzuzeigen, wie unter anderem People of Color mit Kriminalität gleichgesetzt wurden und werden. Sie berichtet von Polizeischikanen und zeigt auf, wie schwer es ist, Beweise dafür zu bekommen - und, wie noch heute das System ein Mantel des Schweigens über alles legt. Die Sieger schreiben die Geschichte, die Sieger sind weiß und sie profitieren davon.
Ein Beispiel in ihrem Buch ist der Fall des schwarzen angehenden Studenten Stephen Lawrence, der 1993 an einer Bushaltestelle in London erstochen wurde. Die Polizei fasste fünf Verdächtige, die wegen Mangel an Beweisen freigelassen wurden. Erst sechs Jahre nach der Tat kam eine Untersuchung zu dem Schluss, dass die Ermittlungen neben Inkompetenz und Führungsversagen von institutionalisiertem Rassismus gekennzeichnet waren - zwei der fünf mutmaßlichen Täter wurden erst im Jahr 2012 verurteilt.
Was das mit Deutschland zu tun hat? Hier gibt es ähnlich gelagerte Fälle: Als der NSU zu morden begann, suchte die Polizei erst in der migrantischen Community nach Tätern ("Dönermorde") als die Morde als rassistische Taten zu begreifen.
Immer noch ist der Mord an Burak Bektas ungeklärt, die Polizei soll keine konkreten Hinweise auf eine rechtsextreme Tatmotivation gefunden haben, obwohl Bektas 2012 offenbar völlig aus dem Nichts auf offener Straße erschossen wurde, als er mit anderen Freunden unterwegs war, die ebenfalls eine Migrationsgeschichte hatten - und obwohl Familienangehörige und Aktivisten das sehr wohl als rassistische Tat sehen.
Oder aber der Fall des psychisch kranken geflüchteten Irakers, der 2016 in Arnsdorf von einer selbsternannten Bürgerwehr an einen Baum gefesselt und geschlagen wurde, nachdem er angeblich im Supermarkt randaliert hatte. Polizei und Notarzt brachten den Geflüchteten zurück in eine Klinik. Der Mann kam später ums Leben, seine Leiche wurde knapp ein Jahr nach dem Vorfall am Supermarkt und nur eine Woche vor dem Prozess gegen die vier Männer der "Bürgerwehr" gefunden. Er war in einem Waldstück nicht weit von seiner Flüchtlingsunterkunft erfroren. Der Prozess gegen die vier Männer der "Bürgerwehr" wurde eingestellt.
Sie erkennen immer noch kein Muster?
Eddo-Lodge zerstört alle Mythen, die auch hier in Deutschland kursieren, um zu verdecken, wie tief Rassismus tatsächlich verankert ist. Zum einen die neoliberale Erzählung: Alle haben die gleichen Chancen, man müsse sich nur genug anstrengen. Falsch, schreibt sie, denn schon allein durch das Weißsein gäbe es ein Vorsprung. Zum anderen das "Konzept der Farbenblindheit" (wie der Satz "Ich sehe keine Hautfarbe, für mich sind alle gleich"). Für Eddo-Lodge eine "infantile, schlecht durchdachte Analyse des Rassismus" - eine Schutzbehauptung, die nur dazu führe, dass Weiße einmal mehr nicht die eigenen Privilegien hinterfragen müssen.
In ihrer scharfen Analyse definiert Eddo-Lodge etwa White Privilege als die "perverse Situation, dass du dich mit offen rassistischen, rechten Extremisten wohlfühlst, weil du dann wenigstens weißt, woran du bist." Vermutlich werden Sie diesen Satz als Angriff gegen sich selbst werten, weil er insinuiert, dass sie schlimmer sind als Rechtsextreme, aber in diesem einem Satz steckt eine große Wahrheit. Menschen, die Rassismus erleben, können diesen Satz blind unterschreiben, weil Grenzen dann klarer sind: "Wir sagen uns, dass gute Menschen nicht rassistisch sein können. Wir sagen uns, bei Rassismus gehe es um moralische Werte, wenn es tatsächlich um die Überlebensstrategie systemischer Macht geht.", schreibt Eddo-Lodge.
Diese Strategien, mit denen ein ungerechtes System sich selbst sichert, ziehen sich aktuell etwa auch durch die vielen Diskussionen um Redefreiheit - ein Begriff, der mittlerweile als Chiffre von links und rechts verwendet wird, um alles sagen zu dürfen und sich nicht mit den eigenen Privilegien auseinandersetzen zu müssen. Aber "Redefreiheit ist nicht das Recht zu sagen, was man will, ohne zurückgewiesen zu werden."
Lesen Sie dieses Buch, auch wenn es weh tut - das muss so sein. Die gute Nachricht ist: Sie können anfangen, sich selbst und ihre Position zu hinterfragen - und kanalisieren Sie ihre Wut und den Schmerz dann für etwas Nützliches. Es ist ein Prozess. Das Buch von Reni Eddo-Lodge ist dabei nur der erste Schritt.
Source: Spiegel Online