Chancengleichheit – ein Wort

Afrodeutsch

Chancengleichheit – ein Wort, das oft genutzt und doch immer noch nicht verstanden wird. Eine Auswertung von Daten des Statistischen Bundesamts, zeigt deutlich, dass die Bildungsgerichtigkeit in der Realität anders aussieht. Die ist stark von dem Bildungsstand der Eltern abhängig. Kann man in so einem Fall von Chancengleichheit sprechen?

Sozial benachteiligte Schüler:innen, haben überwiegend einen migrantischen Hindergrund oder stammen aus der Arbeiterschicht. Über Diskriminierungserfahrungen wie subjektive Empfehlungen für die Hauptschule, gehören zum Alltag. Auch wenn die Kinder die intellektuelle Kapazität hätten, das Gymnasium zu besuchen. Statt Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit zu verwirklichen, vertieft unser Bildungssystem die strukturellen Defizite solcher benachteiligter Schüler:innen.

Und wenn es doch jemand versehentlich auf dem Gymnasium landet? Ganz besonders am

Gymnasium, dem heiligen Gral des deutschen Bildungsideals, durchlässig auch für mäßig begabten Akademikernachwuchs, dafür umso selektiver bei Migranten- und Arbeiterkindern.

„Wir sind nicht sehr viele hier", meint Daniel. Mit hier, meint er das Gymnasium, das er seit 7 Jahren besucht. Er trägt zwei Lasten mit sich, die er aber meistert. Seine Eltern stammen aus Ghana und Geld ist immer knapp. „Meine Eltern sind meisterhafte Ökonomen. Sie schaffen so viel mit so wenig", lacht er. Trotzdem ist er ein guter und fleißiger Schüler. Vielleicht gerade auch deshalb? Er möchte sein Abitur bauen und später auch Studieren. Nicht Medizin, Maschinenbau oder Jura. Sagt er explizit.


Schulbesuch nach Bildungsstand der Eltern

First Contact, Menschen treffen auf Außerirdische

„Wir sind eine Schule ohne Rassismus. Von uns gibt es nicht so viele hier. Wir werden aber immer mehr," fügt er nach kurzem Innehalten hinzu. „Ich möchte mir nicht vorstellen, wie es damals in den 90ern gewesen ist. Damals soll es überhaupt nur 4 schwarze Schüler auf unserer Schule gegeben haben. In 10 Jahren. Der erste wirklich schwarze Schüler kam aus Ghana. Er war ein echter Quotenschwarzer hier. Ich stelle mir das immer noch bildlich vor. Es muss ähnlich wie bei Star Trek zugegangen sein.

First Contact, Menschen treffen auf einen Außerirdischen," lacht er.


Was die ersten Barrierebrecher damals erlebten mag zwar persönlich gewesen sein. Diese Erfahrungen sind aber gesellschaftliche Probleme geblieben. Nur wenig hat sich geändert. Das Versprechen der Politik, Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit durchzusetzen, ist ein Mythos geblieben. Lippenbekenntnisse wie der "American Dream", der Traum, dass es jeder zu etwas bringen mag, wenn er oder sie nur hart und fleißig genug (an sich) arbeitet.

Sind Ganztagsschulen die Lösung?

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Das muss man ernüchternd feststellen. Lehrkräfte raten den Cenks, Daniels und Kevins häufiger zum Schulwechsel als den Felix, Sophies und Pauls. „Cenk, kann ich also damit rechnen, dass du ab dem kommenden Halbjahr nicht mehr in meiner Stufe bist?“ Laut Daniel soll ein Oberstufenlehrer sich gegenüber einem türkischstämmigen Mitschüler so geäußert haben. Die

Startbedingungen sind ungleich, es wird von Schülern aus migrantischen, einkommensschwachen oder bildungsfernen Schichten erwartet, mit Akademikerkindern konkurrieren zu können. Eine Illusion. Denn um Parität herzustellen bedürfe es, so die österreichische Autorin und Journalistin Melisa Erkurt,

Ganztagsschulen die hochwertig und auf die Bedürfnisse von benachteiligten Schülern ausgerichtet sind und umfassende Bildungsangebote machen.

Davon sind wir in Deutschland ja noch meilenweit entfernt. Ganztagsschulen in diesem Land fungieren dazu, Eltern den Wiedereinstieg in die Arbeitswelt zu ermöglichen. Unabhängig davon stellt sich die Frage, wie benachteiligten Schülern geholfen werden kann. Denn bis strukturelle Ungleichheiten ausgeräumt sind und Ganztagsschulen Probleme und Bedürfnisse von Schülern wirksam ansprechen können wird noch viel Wasser den Rhein runterfließen. Wie soll es also weitergehen?

„Die Benachteiligung ist da, das kann ich nicht wegreden. Und ich bin mir auch bewusst, dass wir das auch nicht so leicht und schnell überwinden werden. Wir müssen das tun, was wir tun können um unsere Situation an den Schulen zu verbessern," ist sich der Oberstufenschüler Daniel sicher.

Tatsächlich ist Introspektion nötig. Und wir müssen uns fragen: Tun unsere Eltern und Community auch genug um die Bildungssituation unserer Kinder zu verbessern? „In meinem Alter möchte ich meinen Eltern nicht länger zur Last fallen. Mein Vater ging mit 19 Jahren nach Nigeria um dort zu arbeiten. Ich lebe hier, mir geht's gut. Dafür bin ich dankbar", sagt er etwas nachdenklich. „Ich gebe Nachhilfeunterricht", fährt er fort. „Ich habe Einblick in den Zustand in vielen unserer Familien. Die Bedingungen für eine erfolgreiche Bildungskarriere sind oftmals nicht gegeben. Viel zu viel Dysfunktionalität."

Wenig Solidarität in Elternhäusern

Dysfunktionale Elternhäuser. In unserer Ursachensuche berücksichtigen wir oftmals die Situation in den Elternhäusern nicht. Wir stützen uns auf statistische Erhebungen, um die Lage in den Familien einzuordnen. Dass das gewonnene Bild nicht immer genau und sehr lückenhaft ist, übersehen wir schnell. Dabei ist die wirtschaftliche Situation trotz aller Widrigkeiten längst nicht so prekär wie von den Behörden angenommen. Aber wenn die Mutter ihr eigenes Haus in der Heimat baut, weil sie ihrem Mann misstraut, wenn beide getrennt statt gemeinsam Vermögen aufbauen, wird es letztendlich auch knapp mit dem Geld. Eine Einzelbeobachtung ist das nicht. Es ist die Norm. Unsere Familien müssen den solidarischen Umgang miteinander lernen. Es fehlt der Zusammenhalt, das berühmte Wir-Gefühl. Und so zieht man nicht am selben Strang um ein gemeinsames Ziel zu realisieren.

Unsere Eltern tun dies aber nicht aus Böswilligkeit oder Egoismus. Auch sie erkennen den Wert der Bildung und möchten ihren Kindern dieses auch ermöglichen. Das Interesse an Nachhilfe ist laut Daniel sehr hoch. Wir müssen die Eltern deshalb besser Verstehen lernen. Auch wenn sie seit Jahrzehnten in diesem Land leben, wirken sich ihre Traumata immer noch auf ihr Handeln aus. Die Gefahr abgeschoben zu werden hing lange Zeit über sie wie das Schwert über Damokles. Zudem mussten sie auch ihre

Familie daheim mitversorgen. All diese Faktoren prägten sich in einer rückwärtsgerichteten bzw. heimatorientierten Lebensführung aus. Ihnen war wichtig sich zunächst in der Heimat gut aufzustellen.

„Sie sind noch nicht richtig angekommen und planen schon ihre Rente in Ghana," beschwert sich Daniel über seine Eltern. „Ich erkenne, welche Eltern ein echtes Interesse an Bildung haben und welche nicht. Erledigen die Kinder ihre Hausaufgaben die ich ihnen gebe, erscheinen sie pünktlich und regelmäßig zur Nachhilfe? Wissen Sie, nur wenige Eltern fragen mich ob ich sie zum Elternsprechtag begleiten könnte. Viele von ihnen nehmen an der Bildung ihrer Kinder nicht teil. Und meiner Meinung

nach ist Geldmangel nicht das Problem. Mangel an Bildungsinteresse ist es. Bildungsinteressierte Eltern achten auf schulische Leistung ihrer Kinder." Die Lebens- und Wohnsituation in vielen Familien belastet die Kinder. Sie erleben Konflikte ihrer Eltern, die oft über Wochen und in ihrem Beisein ausgetragen werden.

Jeder isst für sich allein, und viele Kinder vereinsamen zuhause, weil die Eltern sehr viel arbeiten müssen. Das Leben in beengten Räumen mit nur wenig Rückzugsmöglichkeiten ist ein weiteres Problem.

Die Idee der Ganztagsschulen im außerschulischem Raum umsetzen

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Verhältnisse zuhause die Leistung im Klassenzimmer negativ beeinträchtigen. Migrantische Schüler befinden sich oft im Zangengriff zweier Defizite: strukturbedingte Diskriminierung in der Schule und Vernachlässigung im Elternhaus. Diese Probleme, beziehungsweise Hürden, sind Kennern unserer Communities bekannt. Offen spricht sie jedoch keiner an. Aus falsch verstandenen Sinn für Anstand und Höflichkeit. Die Suche nach Lösungen gestaltet

sich indes unnötigerweise schwierig. Unnötig deswegen, weil wir die Voraussetzungen für die Aufwertung von Bildung und Besserung der Bildungssituation unserer Kinder kennen. Melisa Erkurt plädiert für ein Angebot qualitativ hochwertiger Ganztagsschulen mit „MusikpädagogInnen, SportpädagogInnen, Gesundheitspersonal, Nachhilfe und Mehrstufen- und Integrationsklassen, damit möglichst viele verschiedene Kinder miteinander lernen könnten."

Dieses Konzept im außerschulischen Raum umzusetzen ist wenig erfolgversprechend. Trotzdem können wir uns einige ihrer Elemente bedienen um unter Einbezug lokaler Netzwerke die Bildungssituation unserer Kinder entscheidend zu verbessern. Ausgangspunkt sollten unseren Kirchen sein. Unsere Gemeinden sind sehr einflussreich. Mittlerweile findet man mit der zweiten Migrantengeneration viele

professionelle Mitglieder in ihnen. Gesundheitsexperten, Sportpädagogen, Lehrer und Verwaltungsangestellte. Musikunterricht kann problemlos organisiert werden.

Ebenso stehen ausreichend Zimmer zur Verfügung um Erlebniswelten und Rückzugsorte für unsere Kinder zu schaffen. Die Nachhilfe könnten begabte Jugendliche wie Daniel übernehmen. Natürlich müssen sie angemessen vergütet werden. Das Ziel sollte sein, die Defizite im familiären Umfeld durch attraktive Bildungsangebote auszugleichen. Es stehen für diese Programme kommunale Finanzhilfen bereit. Geld sollte also nicht das Problem sein, denn wie Daniel meint mangelt es an Bildungsinteresse. Und das gilt es zu wecken.

Dr. Ama Edem Tamakloe
Kwame Sekyere

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