Abitur ja, Ausbildung nein!

Afrodeutsch

Wie Prestigedenken und Unwissen Bildung von afrikanischen Jugendlichen beeinflussen

Am 2. November wurden die African Youth Education Awards (AYE Awards) zum neunten Mal verliehen. Vor etwa 450 Gästen in der Handelskammer Hamburg -darunter Vertreter aus Politik, Gesellschaft und dem Wissenschaftsbetrieb- wurden junge Erwachsene mit vorwiegend schwarzafrikanischer Einwanderungsgeschichte für exzellente Leistungen in Bildung geehrt. AYE Awards ist in der afrikanischen Gemeinde der Hansestadt und ihren Nachbarstädten etabliert und erfreut sich einem großen Zuspruch. Im Gespräch mit Desmond John Beddy, ein in Hamburg lebender Ghanaer und Initiator der Preisverleihung, erklärte dieser, die dem AYEA zugrundeliegenden Motive seien zum einen die Sensibilierung von Eltern, zum anderen, die Motivation von Jugendlichen mit afrikanischem Einwanderungshintergrund, Bildungsabschlüsse zu erwerben um den Anforderungen des deutschen Arbeitsmarktes erfüllen und eine höhere Lebensqualität verwirklichen zu können. Anlässlich des AYE Awards 2019 sollte sich  insbesondere die afrikanische Gemeinde intensiver mit der Bildungssituation ihrer Schüler auseinandersetzen.
ayea3Die Bildungssituation afrikanischer Jugendlicher in Deutschland ist besorgniserregend. Zwar gibt es -wie AYEA beweist- Erfolgsgeschichten. Diese dürfen uns jedoch nicht zu irrigen Annahmen und Illusionen verleiten wonach alles bestens sei. Noch darf die steigende Zahl von Studenten und Jugendlichen mit höheren Bildungsabschlüssen über die Tatsache hinwegtäuschen, dass eine große Zahl von Schülern ihre Laufbahn ohne, oder mit nur geringwertigen Abschlüssen beendet. Alarmieren sollte uns auch die vergleichsweise geringe Zahl an Jugendlichen, die Ausbildungsangebote wahrnehmen. Was sind die Gründe und Ursachen?

Einen interessanten Einblick in die Situation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund gibt uns die Expertin und Lehrerin Petra Norrenbrock. In ihrem 2008 veröffentlichten Buch Defizite im deutschen Schulsystem für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, publiziert in der Schriftenreihe des IKBM (Interdisziplinäres Zentrum für Bildung und Kommunikation in Migrationsprozessen) der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, erörtert sie die Ursachen der Bildungsungleichheit zwischen gebürtigen deutschen Schülern und deren Mit Klässlern mit Migrationskontext. Aus den Ergebnissen dieser Analyse lassen sich Parallelen zur Situation afrikanischer Schüler ziehen. Dass Schüler mit außerhalb von Deutschland geborenen Eltern schwächere Leistungen bringen ist statistisch belegt. Dagegen erzielen Schüler mit deutschen Eltern oder einem in Deutschland geborenem oder zumindest sozialisiertem Elternteil deutlich bessere Leistungen. Letztere Gruppe erzielt vergleichbare Leistungen wie Schüler ohne Migrationshintergrund.

Aus Afrika stammende Schüler gehören zur ersten oder zweiten Einwanderungsgeneration. Ihre Eltern sind nur in seltenen Fällen in Deutschland geboren oder sozialisiert worden und ihnen fehlt es an der Beherrschung der deutschen Sprache, Wissen über das deutsche Bildungssystem  und Kulturkompetenz. Folgerichtig beginnen afrikanische Schüler ihre Schullaufbahn mit einem strukturellen Nachteil. Sie verfügen im Vergleich mit Schülern ohne Migrationshintergrund über eine geringere Sprachkompetenz. Die Beherrschung der Sprache ist jedoch eine der Grundvoraussetzungen für einen erfolgreichen Bildungswerdegang. Besonders hervorzuheben ist die Diskrepanz zwischen Sprach- und Schriftdeutsch, beziehungsweise Alltags- und Schuldeutsch. Das Deutsch, welches wir alltäglich sprechen entspricht nicht dem welchen wir im Klassenraum begegnen. Für Schüler mit Migrationshintergrund stellt das eine enorme Herausforderung dar und ist mitursächlich für schwache Leistungen in Sprachfächern, Mathematik und Naturwissenschaften.ayea2Zum anderen existieren im deutschen Bildungssystem unverändert systemisch bedingte Schranken und strukturelle Benachteiligungen, die ihren Ausdruck in  niedrigen Gymnasialempfehlungen für Schüler mit Migrationskontext finden. Dagegen werden Empfehlungen für Real- und Gesamtschulen auffällig häufig ausgesprochen. Nur eine kleine Zahl von Migrantenschülern schafft es auf das Gymnasium. Der Mehrheit von ihnen wird der Besuch der Gesamtschule nahegelegt. Da sowohl Real- und auch Gesamtschulen selektiv sind, landen viele von ihnen auf der Hauptschule. Gesamt- und Hauptschulen fungieren somit als Reservoir (Abschiebeort) für türkische, arabischstämmige und afrikanische Schüler.

Eine mögliche Erklärung für die Benachteiligung von Schülern mit Migrationsgeschichte ist das Denken der Lehrer in Kategorien und Stereotypen. Das Lehrpersonal an deutschen Schulen ist immer noch in der Mehrheit ethnisch homogen. Gebürtige Deutsche. Es fehlt an Wissen über Verschiedenheiten in den jeweiligen Migrantenkulturen, Traditionen, Normen und Sprachen. Indvidualismus wird den Schülern nicht zugestanden und Handlungen werden im Kontext des kulturellen Hintergrunds interpretiert. Das kann zu Verunsicherung von Schülern führen und einen Rückzug vom Unterricht bewirken.

Man darf mit den Lehrern nicht zu hart ins Gericht gehen. Schließlich leisten die meisten von ihnen ihre Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen. Sie sind die Sündenböcke einer verfehlten Bildungspolitik, die es nicht geschafft hat, ausländische Schüler in das Bildungssystem erfolgreich einzugliedern. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Lehrer mehr interkulturelle Schulung benötigen und dass solche mit Migrationshintergrund unterrepräsentiert sind. Damit fehlt Kindern aus Einwandererfamilien Bezugspersonen die als ihr Vorbild und Sprachrohr dienen könnten.

Die Politik bemüht sich diese Misstände zu beheben. Strukturreformen benötigen jedoch ihre Zeit. Und neue Lehrer kann sich das Land nicht über Nacht backen. Das wird noch Jahrzehnte brauchen. Schnelle, erfolgversprechende Lösungen sind aber gefordert. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, was afrikanische Gemeinden und Eltern unternehmen müssen, um die Bildungschancen ihres Nachwuchses verbessern zu können.ayea4Man muss schonungslos und mit aller Ehrlichkeit eingestehen, dass die Situation mehr als ernüchternd, ja sogar enttäuschend und frustrierend ist. Denn nirgendwo klaffen Erwartungen an und Investitionen in die Kinder so sehr auseinander wie in der Bildung. Einerseits identifizieren sich afrikanische Eltern sehr stark mit dem Bildungserfolg ihrer Kinder, ermutigen und motivieren sie immer wieder "doppelt so gut sein zu müssen wie deutsche Schüler". Unermüdlich predigen sie über die eigene Schullaufbahn in der Heimat, die durch bittere Armut und Mangel an Büchern ein jähes Ende fand. Es gibt praktisch keinen Jugendlichen, der noch nie von diesen und anderen Erzählungen -mögen sie nun wahr sein oder auch nicht- gehört hat.

Eltern verweisen auf das Bildungschlaraffenland Deutschland, das seinen Schülern scheinbar unerschöpfliche Möglichkeiten zur Entfaltung bereitstelle. Die Wirklichkeit sieht aber ganz anders aus. Sie investieren nicht in ihre Kinder. Weder Geld und erst recht keine Zeit. Sie scheinen sich auch nicht für die vielgepriesenen Möglichkeiten zu interessieren. Sie beruhigen ihr Gewissen mit Floskeln und Lippenbekenntnissen. Nur wenige Schüler sind in Bibliotheken angemeldet. Bildungsangebote werden in ihrer Vielfalt nicht erkannt  und wahrgenommen. Aus Hilfslosigkeit und Unwissen der Eltern werden schlechte Schüler  sich selbst überlassen. Wer es in Deutschland nicht schafft gilt als Versager. Das oberste Ziel ist das Studium. Der Beruf des Arztes, Architekts oder Anwalts bilden die heilige Dreifaltigkeit des afrikanischen Bildungsideals. Eine Ausbildung bringt kein Prestige und ist Eingeständnis des Versagens der Kinder und Schande der Eltern.

Stattdessen inszenieren sich Eltern sehr gerne im besten Sonntagsanzug und Kleid vor der gesamten Gemeinde um Gott dafür zu danken, dem eigenen Sproß zum Abitur verholfen zu haben. Die bestandene Ausbildungsprüfung wird bestenfalls mit einer lapidaren, halblauten Danksagung beim Abendtisch zur Kenntnis genommen. Abitur ja, Ausbildung nein! Besonders perfide hierbei ist, dass dem Nachwuchs die alleinige Schuld zugewiesen wird, weil es trotz bester Voraussetzungen im Bildungsschlaraffenland nichts erreicht habe. Gleichzeitig distanzieren sich die Eltern von jeglicher Mitverantwortung indem sie ihren Kindern zu verstehen geben, dass sie es in Deutschland zu etwas gebracht hätten, wenn sie nur dieselben Gegebenheiten vorgefunden hätten wie ihr Nachwuchs.
ayea5Zur Wahrheit gehört auch, dass sich afrikanische Gemeinden ihre eigenen Parallelgesellschaften geschaffen haben. Der Alltag in den Gemeinden ist geprägt durch Kirche, Arbeit, Diskriminierungserfahrungen, Angst vor dem Scheitern, Misstrauen zu staatlichen Institutionen sowie fehlende Bereitschaft Sprache, Kultur und Traditionen der Deutschen kennenzulernen. Kinder und Jugendliche werden zu bibeltreuen "Soldaten Gottes" erzogen, die Bibelverse ohne Zögern rezitieren können. Aber "Tagesthemen", "Weltspiegel" oder "Heute Journal" sind ihnen fremd. Zu beobachten ist auch, dass die Jugendlichen sich ebenfalls von der Mehrheitsgesellschaft abschotten. Sie bleiben immer mehr unter sich, verkehren seltener mit Jugendlichen aus anderen Kulturkreisen. Ein Umstand, den der an der Universität Hamburg lehrende äthiopische Sprachwissenschsftler Dr. Getie Gelaye in seiner Rede bei den AYEA scharf anprangerte. Integration -so Gelaye- hieße, einen Schritt aufeinander zuzumachen. Afrikanische Eltern müssten die Kulturkompetenz ihrer Kinder aktiv fördern. Dazu gehören Theater- und Museumsbesuche, Städtetouren, Auseinandersetzung mit der Geschichte und den Gepflogenheiten des Gastlandes.

Die afrikanische Gemeinde muss sich öffnen und aktiv am gesellschaftlichen Leben in Deutschland teilnehmen. Kinder und Jugendliche müssen schon in jungem Alter an die deutsche Mehrheitsgesellschaft herangeführt werden. Nur so kann der Anschluss gelingen. Dabei könnten Initiativen wie AYEA die Integration in die Gesellschaft aktiv mitgestalten. Dazu bedarf es aber die Neuausrichtung des Konzepts, fort von dem regionalen und hin zu einem nationalen Ansatz, sowie die Positionierung der Initiative als aktives Bildungs- und Kommunikationsplatform nicht nur für schwarzafrikanische Schüler und Studenten. Denn zu Afrika gehören auch arabische und maghrebinische Staaten. Es wäre ein sehr großer Erfolg, wenn bei der nächstjährigen Jubiläumsveranstaltung Schüler und Schülerinnen mit nordafrikanischer Migrationsherkunft ausgezeichnet werden. Dem Team um Desmond stehen spannende Zeiten, Herausforderungen und harte Arbeit bevor. In ihrer Rede auf dem AYEA betonte die Ghanaerin Victoria Menu, dass Deutschland funktioniere, weil es arbeite und arbeite weil es funktioniere. Wenn es um die Bildung von afrikanischen Jugendlichen geht sind Trägheit und Unentschlossenheit fehl am Platze.

Kwame Sekyere -Dortmund